Die Widersprüche des Liberalismus – und die Bedeutung für unsere Gesellschaft (Teil 1)

Locke, Smith, Montesquieu – sie und weitere bedeutende Denker entwarfen unser heutiges liberales Gesellschaftsbild. Mehrere große politische Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert waren vom Liberalismus geprägt und ermöglichten die Entstehung der westlichen Demokratie. Doch wie umfassend sind diese liberalen Ideale tatsächlich? Wie entwickelte sich unser heutiger Liberalismus? Und welche gesellschaftlichen Implikationen gehen daraus hervor?


Der Liberalismus – eine Bestandsaufnahme

Der Liberalismus als politische Strömung strebt eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung an. Doch in den wohlhabenden Industriestaaten scheint er zunehmend reduziert auf den ökonomischen Aspekt. Es wird seit Jahrzehnten der Konsens hochgehalten, dass freie Marktwirtschaft in Kombination mit einem demokratischen Rechtsstaat maximale Freiheit und Wohlstand für jeden einzelnen Bürger garantiert. Es lässt sich jedoch beobachten, wie parlamentarische Demokratien weltweit zunehmend durch den Einfluss globaler Konzerne, Banken und Lobbyverbände in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden. Wichtige ökologische und soziale Reformen bleiben aus, und demokratische Strukturen werden immer häufiger untergraben.

Die Folgen sind einerseits eine weitreichende Entmündigung des Demos – des Staatsvolkes – sowie eine Einschränkung der Freiheit des Individuums durch wirtschaftliche Zwänge und geburtenabhängige Chancenungleichheit.

Die Freiheitsstatue als Symbol des Liberalismus

Wir erleben gesellschaftliche Zustände, die eigentlich nicht im Sinne ursprünglicher liberaler Ideale sein können. Doch wie sehen diese Ideale aus? Wie weitreichend sind sie und welche Widersprüche liegen ihnen zugrunde? Und welche Implikation hat das für unsere heutige Gesellschaft?

Der Beitrag ist in 2 Teile aufgeteilt, welche aufeinanderfolgend erscheinen:

  1. Die ursprünglichen liberalen Ideale – und ihre Widersprüche
  2. Die Entwicklung zu unserem heutigen Liberalismus – und die gesellschaftlichen Implikationen

Die ursprünglichen liberalen Ideale – und ihre Widersprüche

Das klassische liberale Denken entstand im 17. Jahrhundert, inspiriert von der Aufklärung, und stand im Gegensatz zum durch Religion legitimierten Absolutismus. Im Mittelpunkt standen Naturrechte, aus denen die allgemeinen Menschenrechte abgeleitet wurden, die Errichtung eines Rechtsstaats, in dem Machtmissbrauch durch Gewaltenteilung beschränkt wird, die Trennung von Kirche & Staat, und Meinungs- und Gewissensfreiheit.


Als „Vater“ des Liberalismus gilt John Locke. In seinem Manifest Zwei Abhandlungen über die Regierung kritisierte er die absolutistische Monarchie und lehnte Gottesgnadentum – ein Monarch als Gottesabbild mit uneingeschränkter Macht – entschieden ab. Stattdessen plädierte er für einen Gesellschaftsvertrag, den Menschen für die Bildung und Legitimierung eines Staates freiwillig eingehen können.

Laut Locke existieren Menschen im Naturzustand in völliger Gleichheit. Jeder Mensch hat das natürliche Recht auf „Eigentum“ an sich selbst und niemand hat das Recht, sich über den Anderen zu stellen. Zudem spricht er jedem Menschen das Recht auf Selbstentfaltung und Privateigentum zu.

John Locke – „Vater des Liberalismus“

Eine Regierung, durch einen Vertrag mit Zustimmung des Volkes legitimiert, soll diese natürliche Freiheit sichern, indem sie Leben, Freiheit und Eigentum schützt. Wenn die Regierung gegen das Naturrecht verstößt, habe das Volk das Recht auf Widerstand. Früh schon sprach sich Locke für eine Gewaltenteilung in Legislative und Exekutive im Sinne des Verhinderns von Machtmissbrauch aus.


Die Ideen und Theorien Lockes waren geprägt von einer bürgerlichen Perspektive. Damalige Monarchien und der Merkantilismus schränkten einen freien Handel stark ein, gleichzeitig gab es das sich im Aufschwung befindende Bürgertum, welches die eigenen ökonomischen Vorteile im Blick hatte und nach einer Liberalisierung der Wirtschaft strebte. An dieses Streben knüpfte Locke mit seiner Freiheitsargumentation an, in dem er einen starken Fokus auf Privateigentum und eine freie Wirtschaft legte. Durch diese Beschränkung auf die eigene bürgerliche Sicht wurde faktisch ein großer Kreis an Menschen von den Vorteilen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen ausgeschlossen: die Besitzlosen.

Durch die Verknüpfung des Rechts auf Eigentum an sich selbst mit dem Recht, das der Einzelne an seiner eigenen Arbeit hat, argumentierte Locke für das natürliche Recht auf Eigentum (Privateigentum am von der eigenen Arbeit erschaffenen Produkt) im Sinne der Staats- und Wirtschaftsordnung des frühen Kapitalismus. Gleichzeitig dehnte er das Recht auf Privateigentum auf Formen arbeitsloser Aneignung aus, um Kapitalakkumulation durch das Ausbeuten von Arbeitern zu rechtfertigen:

Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen, und das Erz, das ich an irgendeiner Stelle gegraben, wo ich mit anderen gemeinsam ein Recht dazu habe, werden ohne die Anweisung und Zustimmung von irgendjemandem mein Eigentum. Es war meine Arbeit, die sie dem gemeinsamen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat und die mein Eigentum an ihnen bestimmt hat.

John Locke – Zweite Abhandlung über die Regierung

Das gipfelte in seiner Feststellung, dass Menschen, welche nicht über Eigentum verfügen, „nicht als ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden“ können (Zweite Abhandlung über die Regierung, §85). Somit blieben die Besitzlosen außen vor, ganz zu schweigen von verschiedenen alsbald vertriebenen und vernichteten Gruppen und Stämmen von Ureinwohnern – dieser Liberalismus war nicht für sie vorgesehen. Auch musste der nicht-männliche Teil der Bevölkerung einige Zeit warten, bis die vom Liberalismus propagierten Grundsätze bei ihm Anwendungen fanden. Das Recht für verheiratete Frauen auf eigenes Eigentum wurde erst mit dem Married Women’s Property Act im Jahr 1870 etabliert und auch das Wahlrecht musste im Nachgang hart erkämpft werden.

Merkantilismus – Seehandel im 17. Jahrhundert

John Lockes Ideen scheinen widersprüchlich: auf der einen Seite das natürliche Recht auf Freiheit, Selbstbestimmtheit und Gleichheit für jeden, auf der anderen Seite die Legitimation von Kapitalakkumulation und die Aberkennung der Rechte der Besitzlosen, was wiederum zu einer immensen Ungleichheit führte. Auch andere liberale Denker neigten dazu, diesen Widerspruch nicht adäquat aufzulösen.

Während John Locke als „Vater des Liberalismus“ gilt, wird Adam Smith als Begründer der klassischen Nationalökonomie bezeichnet. 1776 veröffentlichte er sein Hauptwerk Wohlstand der Nationen, in dem er gegen die Handelsbeschränkungen des Merkantilismus anschrieb und darlegte, wie ein freier Markt zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand führt, da das freie Streben eines jeden nach dem eigenen Vorteil den größten Vorteil für die gesamte Gesellschaft bringe.

Im Gegensatz zum monarchisch kontrollierten Merkantilismus bedeuteten freie Märkte tatsächlich mehr Freiheit. Auch beschreibt Adam Smith viele Aspekte und Mechanismen einer Marktwirtschaft, beispielsweise Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung, äußert präzise. Ebenfalls erkannte er die schädliche Wirkung von Monopolen. Nichtsdestotrotz blieb der Fehlschluss, dass ein freier Markt sich selbst ausbalanciert und prinzipiell dem Interesse des Allgemeinwohls diene. Der propagierte Wirtschaftsliberalismus steigerte zwar die Produktivität der Gesellschaft und sorgte für immense Vorteile – jedoch Vorteile vor allem für eine priviligierte Oberschicht.

Adam Smith – Begründer der klassischen Nationalökonomie

Bedeutet das, der Liberalismus diente nur als Mittel zum Zweck, die wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Bürgertums durchzusetzen?

Locke und Smith nahmen mit ihren Schriften bedeutenden Einfluss auf die Gesellschaft und den Staat. Am meisten profitierte das aufstebende Bürgertum. Doch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es für alle Teilnehmer einer Gesellschaft eine positive Entwicklung war, grundlegende Menschenrechte und moderne demokratische Rechtsstaatsprinzipien zu etablieren.

Auch sorgten die Schriften einflussreicher liberaler Denker dafür, dass die Menschen begannen, sich als selbstbestimmtes Wesen mit Recht auf demokratische Beteiligung wahrzunehmen. Stellvertretend steht dafür Common Sense von Thomas Payne. Das Pamphlet Common Sense wurde 1776 in den vorrevolutionären Kolonien Amerikas veröffentlicht, mit mehr als einer halbe Million verkaufter Exemplare zum beispiellosen Erfolg und beeinflusste entscheident die Unabhängigkeitserklärung Amerikas.

Das Kapitel Thoughts on the present State of American Affairs wurde mit folgenden Worten eingeleitet:

Auf den folgenden Seiten biete ich nichts weiter als einfache Fakten, klare Argumente und gesunden Menschenverstand; und habe mit dem Leser keine anderen Vorkehrungen zu treffen, als dass er sich von Vorurteilen und Voreingenommenheit befreien und seine Vernunft und seine Gefühle selbst bestimmen lassen wird;

Thomas Paine – Common Sense

Common Sense richtete sich an Menschen quer durch alle Gesellschaftsklassen und trat dafür ein, dass Amerika die Unabhängigkeit erringen und ein auf den Prinzipien des Liberalismus basierendes, demokratisches Regierungssystem einführen solle. Es fand dementsprechend Anklang und war ein wichtiger Baustein der ersten westlichen liberalen Demokratie – den USA.

Common Sense von Thomas Paine

Doch nicht nur für eine neue Selbstwahrnehmung der Menschen war der Liberalismus bedeutend. Auch widmeten sich einige liberale Denker Fragen der sozialen Gerechtigkeit und stießen damit wichtige Diskussionen an.

John Stuart Mill, einer der bekanntesten liberalen Philosophen und Ökonomen, galt als früher sozialer Reformer. In seinem Essay On Liberty betonte er die Bedeutung für den Menschen und die Gesellschaft, „der menschlichen Natur die volle Freiheit zu geben, sich in unzählige und widersprüchliche Richtungen zu entfalten“. Gleichzeitig war er einer der ersten Ökonomen, die Profitinteressen in Übereinstimmung mit sozialer Gerechtigkeit bringen wollten und betrachtete das unendliche Streben nach Wirtschaftswachstum als Sucht, wobei gesellschaftliche Fortschritte umso größer wären, würde der Mensch dieser Sucht entsagen.

John S. Mill – früher sozialer Reformer

Er betrachtete diese Sucht des Strebens nach Reichtum als ein menschliches Laster, welches überwunden werden sollte:

Es ist zweifellos wünschenswerter, die Energien der Menschheit durch den Kampf um Reichtümer in Betrieb zu halten, wie früher durch den Kampf im Krieg, bis es den besseren Geistern gelingt, die anderen zu besseren Dingen zu erziehen, als dass sie verrosten und stagnieren

John S. Mill – Of the Stationary State

Letztendlich sei ein „stationärer Zustand“ der Wirtschaft erstrebenswert, welcher laut Mills 1848 „im Großen und Ganzen eine ganz erhebliche Verbesserung gegenüber unserem gegenwärtigen Zustand wäre“. Der beste Zustand für die menschliche Natur sei der, „in dem niemand arm ist, niemand reicher sein möchte und niemand Angst haben muss, durch die Bemühungen anderer, sich voranzutreiben, zurückgedrängt zu werden“.

Auch galt Mill als früher Feminist und plädierte mit seinem Essay Die Hörigkeit der Frau, den er zusammen mit seiner Eherfrau Harriet Taylor Mill und seiner Stieftochter und Frauenrechtlerin Helen Taylor verfasste, für die soziale Gleichstellung der Frau.

Helen Taylor – Autorin und Frauenrechtlerin

John S. Mill war weit entfernt davon, ein Sozialist zu ein. Er vertrat eine klassisch liberale Ökonomie, zudem schienen in seinen Schriften elitäre Tendenzen durch. Mill stellte die Theorie der „Tyrannei der Mehrheit“ auf – eine inhärente Schwäche der Mehrheitsherrschaft, bei der die Mehrheit einer Wählerschaft ihre Interessen einer Minderheitsfraktionen aufdrückt, was mit der Unterdrückung eines Tyrannen oder Despoten vergleichbar sei. In Considerations on Representative Government erläutert er, „dass zwar jeder eine Stimme haben sollte, dass aber jeder die gleiche Stimme haben sollte, ist eine völlig andere Behauptung“.

Dennoch zeigten John S. Mills Gedanken zu sozialer Gerechtigkeit und der Gleichstellung der Geschlechter, dass Liberalismus nicht zwangsläufig einzig und allein auf das Befürworten einer freien Marktwirtschaft zu reduzieren sein muss.


Viele weitere liberale Denker haben ihren Fußabdruck hinterlassen: Von Montesquieu, welcher der Gewaltenteilung Lockes die Judikative als dritte Gewalt hinzufügte, über Hobbes bis Rousseau, welche ebenfalls als bedeutende Theoretiker des Gesellschaftsvertrags galten. Auch gab es frühe liberale Gruppen wie die Leveller, welche radikaldemokratische Positionen wie das Verbot der Konzentration von Macht und die Rückgängigmachung der Privatisierung des Gemeindelandes zum Nutzen von Großgrundbesitzer vertraten.

All diese verschiedenen Positionen und Widersprüche erschweren eine abschließende Beurteilung des Liberalismus. Fest steht, dass er einen großen Einfluss auf unsere moderne liberale Demokratie hat. Während der Liberalismus ursprünglich sicherlich nicht vorrangig dazu diente, die Profitinteressen priviligierter Klassen durchzusetzen, sondern viele wichtige zivilisatorische Fortschritte ermöglichte, scheint es so, als wäre er letztendlich im Sinne der Rechtfertigung ebendieser Profitinteressen interpretiert worden. Dies mag ein entscheidener Grund dafür sein, warum er schließlich zur allgemein akzeptierten politischen Philosophie der westlichen Moderne aufstieg.


Wie sah dieser Aufstieg aus? Wo steht der Liberalismus heute?

Es folgt demnächst: Teil 2 – Die Entwicklung zu unserem heutigen Liberalismus – und die gesellschaftlichen Implikationen


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Kommentare

Eine Antwort zu „Die Widersprüche des Liberalismus – und die Bedeutung für unsere Gesellschaft (Teil 1)“

  1. Avatar von Jan Tovar

    @beitraege

    Nach langer Zeit konnte ich mal wieder einen Beitrag schreiben. Diesmal zu einem Thema, welches aktuell ist wie nie: der Liberalismus – bzw. seine Widersprüche.

    Wie umfassend sind liberale Ideale tatsächlich? Wie entwickelte sich unser heutiger Liberalismus? Welche gesellschaftlichen Implikationen gehen daraus hervor?

    Dazu Tei 1:

    https://www.radikaledemokratie.de/die-widerspruche-des-liberalismus-und-die-bedeutung-fur-unsere-gesellschaft-teil-1/

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