Politik vs. Wirtschaft – Unsere Gesellschaft ist nur zur Hälfte demokratisiert

Die demokratisch organisierte Politik ist nicht der einzige Bestandteil eines Staates. Maßgeblichen Einfluss auf unseren Alltag hat die Wirtschaft. Dort ist man im Gegensatz zum politischen System jedoch autoritär-hierarchisch Strukturen unterworfen. Es stellt sich die Frage, inwiefern ist ein Staat vollständig demokratisch, wenn die Politik demokratisch gestaltet wird, die Wirtschaft jedoch nicht?


Deutschland ist eine demokratische Republik – Entscheidungen werden von gewählten Volksvertretern getroffen, die innerhalb eines parlamentarischen Regierungssystems den Willen der Wähler vertreten. Demokratisch organisierte Politik ist jedoch nicht der einzige Bestandteil eines Staates ist. Maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Landes und auf den Alltag eines jeden Bürgers hat: Die Wirtschaft. Sie kann neben (und abhängig von) der Politik als zweiter großer Teil eines Staates betrachtet werden. Nun stellen sich die Fragen, wie sieht es mit der Demokratie in diesem Bereich aus? Denken wir den Begriff der Demokratie eventuell zu kurz?


Wie kamen wir zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem?

Unser heutiges Wirtschaftssystem ist der Kapitalismus. Dieser entsprang aus dem Feudalismus, in dem Besitz an Grund und Boden noch einen höheren Stellenwert hatte, als Geld und Privateigentum von Produktionsmitteln. Der Kaiser oder König, der Adel und die Kirche bildeten die führende Schicht. Ihnen gehörten die Ländereien. Sie gaben das Land und bestimmte Rechte an Grundherren für treue Dienste weiter. Diese gaben das Land widerrum an Bauern weiter, welche es bewirtschafteten und dem Grundherren dafür Abgaben schuldeten. Die Gesellschaft war hierarchisch über Abhängigkeitsverhältnisse, basierend auf Grundbesitz, strukturiert.

Während sich ab dem 15. Jahrhundert durch einen zunehmenden Wechsel von der Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft, was die Bildung von Kapital erlaubte, frühkapitalistische Strukturen bildeten, wurde das Feudalsystem als Ganzes erst im Laufe der bürgerlichen Revolutionen abgeschafft, angefangen mit der Amerikanischen Revolution 1776, über die Französische Revolution 1789 bis zur Deutschen Revolution 1848. Bauern wurden aus ihrer Leibeigenschaft befreit, zahlreiche Sonderrechte der Adeligen und des Klerus wurden abgeschafft.

Die ehemals unfreien Menschen waren nun frei. Doch wie Marx anmerkte, doppelt frei – frei von feudalen Bedingungen und frei von Besitz bzw. Produktionsmitteln. Genossenschaftlich genutzte Ländereien wurden privatisiert, es entstand eine neue Schicht der Besitzlosen. Sie mussten ihre Arbeitskraft an besitzende Menschen verkaufen, um überleben zu können und wurden zu Lohnarbeitern. Durch neue Produktionstechniken und erhöhte Marktnachfrage kam es zu einer gewaltigen Produktionssteigerung, wovon die besitzende Menschen profitieren, und Kapital akkumulieren konnten. Den Lohnarbeitern zahlten sie dabei lediglich einen Lohn, der zur Reproduktion, also zum Überleben der Arbeitskraft (der Besitzlosen) reichte. Die Besitzlosen arbeiteten für die Besitzvermehrung der Besitzenden, und somit bildeten sich neue Gesellschaftsschichten – Kapitalisten und Arbeiter.

Während im Feudalismus das Ziel der herrschenden Klasse noch war, durch Reichtum in Prunk zu leben, war das Ziel der Kapitalisten nun, Reichtum zu vermehren – auch bedingt durch den Konkurrenzkampf, welcher durch die neuen wirtschaftlichen Umstände, der Entstehung eines Bankensektors und der Vergabe von Krediten sowie den Einnahmen durch Zinsen entstand. Es entwickelten sich dauerhaft wachsende Volkswirtschaften und das Kredo eines ständigen Gewinnstrebens.

Fabrikarbeit im frühen Kapitalismus

Freier Markt = freier Mensch?

In diesem Wirtschaftssystem leben wir heute noch und die gesellschaftlichen Klassen des Kapitalisten und des Arbeiters bestehen in ihren Grundprinzipien weiter. Durch die Organisation der Arbeiter in Gewerkschaften und Arbeiterparteien, gelang es den Arbeitern zwar, eine Beteiligung am Wohlstandsgewinn zu erzwingen. Jedoch gibt es im Wesentlichen immer noch zwei Rollen: Besitzer von Produktionsmitteln, welche diese für sich gewinnbringend einsetzen, und Besitzlose, die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind.

Adams Smith, der Begründer der klassischen Nationalökonomie, behauptet mit seinem „System der natürlichen Freiheit“, dass Freiheit und Wohlstand gleichzeitig erreicht werden und dass durch freien Handel auch die Interessen der Allgemeinheit wahrgenommen werden. Angebot und Nachfrage bestimmen die Höhe der Preise und Löhne und sorgen so für eine Balance der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Heute ist es jedoch äußerst fraglich, ob solch ein freier Markt mit fairen Bedingungen jemals existierte. Solange die Macht zwischen Marktteilnehmern ungleich verteilt ist (und das war sie von Anfang an), so ist auch der freie Handel, zum Beispiel das Aushandeln von Arbeitsbedingungen, im Ungleichgewicht und mächtigere Akteure sind in der deutlichen besseren Verhandlungsposition. Es entstehen Monopole und Machtkonzentration.

Heutzutage können Arbeitgeber, eingerahmt von Regelwerken abhängig nach Standort, frei entscheiden, wie und wann sie ihre Produktionsmittel einsetzen. Sie können Arbeitskräfte anstellen, Verträge mit ihnen aushandeln und haben das Weisungsrecht über die angestellten Personen. Im Gegensatz zu Adam Smiths Ansicht, findet das Aushandeln dieser Verträge aber selten auf Augenhöhe statt und prinzipiell erhält ein Arbeiter nur ein Bruchteil von dem Mehrwert, den er erwirtschaftet. Dafür muss er im Rahmen des ausgehandelten Arbeitsvertrags den Weisungen von höheren Hierarchiestufen folgen.

Abgesehen davon, ob unendliches Gewinnbestreben mit den planetaren Grenzen unseres Planeten vereinbar ist, stellt sich die Frage, ob nicht jeder Mensch Anspruch auf Mitbeteiligung und Mitbestimmung hat. Wird von einem mündigen Menschen ausgegangen, der selbstständige und vernünftige Entscheidungen treffen kann, so sollte darüber nachgedacht werden, inwiefern es einem Menschen gerecht wird, wenn er ohne Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitbeteiligung für Fremdinteressen Anweisungen von höheren Hierarchieebenen folgen muss, um nicht in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht zu sein.


Ist das aktuelle Wirtschaftssystem alternativlos?

Welche Alternativansätze gibt es nun für mehr wirtschaftliche Demokratie? 1602 wurde mit der Niederländischen Ostindien-Kompanie die erste moderne Aktiengesellschaft gegründet, die jedem Menschen die Möglichkeit zur Beiteiligung, Mitbestimmung und Profitanteilnahme geben sollte. Jedoch ist das Grundprinzip der Aktiengesellschaft inhärent undemokratisch, denn hier heißt es: Je mehr Anteile, desto mehr Stimmen; je mehr Geld, desto mehr Einfluss. Es handelt sich also mehr um oligarchische als um demokratische Prinzipien.

Niederländische Ostindien-Kompanie

Ein anderer Ansatz ist schon vielversprechender: Die Genossenschaft. 1799 wurde während der Industrialisierung die erste moderne Genossenschaft in Form einer Baumwollspinnerei gegründet, um menschenwürdigere Arbeits- und Lebensbedingungen zu garantieren.

Genossenschaften haben den Zweck, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes zu fördern. Um Mitglied einer Genossenschaft zu werden, kann man Anteile erwerben und ist somit Mitbesitzer. Innerhalb der mindestens einmal im Jahr stattfindenden Generalversammlung können die Mitglieder über wirtschaftlich sowie genossenschaftsrechtlich bedeutende Entscheidungen Beschlüsse fassen. Jedes Mitglied hat dabei eine Stimme, unabhängig von den erworbenen Genossenschaftsanteilen.

In Spanien existiert mit Mondragón die größte Genossenschaft und das siebtgrößte Unternehmen Spaniens. Sie wurde in der gleichnamigen Kleinstadt zur Minderung des Elend der Bevölkerung ins Leben gerufen. Am Anfang stand eine demokratisch organisierte Fachhochschule und eine Kreditgenossenschaft, basierend darauf erfolgten weitere Neugründungen.

Die Arbeitnehmer Mondragóns sind am Grundkapital beteiligt, werden in die Entscheidungen des Führungspersonals eingebunden und am Gewinn beteiligt. Der personenorientierten Charakter wird betont, der die Arbeit und nicht das Kapital in den Vordergrund stellen soll. Das Führungspersonal darf maximal das achtfache des Arbeiterlohnes verdienen.

Mondragon-Zentrale

Ein weiteres Erfolgsbeispiel sind genossenschaftliche Supermärkte, bei denen die Mitglieder sowohl Kunden als auch Mitarbeiter sind und ebenfalls Anteile und Stimmrecht besitzen. Das aktuelle Vorzeigeprojekt ist der Park Slope Food Coop in New York mit 17.000 Mitgliedern. Auch in Deutschland existieren mehrere Projekte dieser Art, in Berlin gibt es seit ein paar Jahren den SuperCoop, der das Konzept aus New York in Deutschland etablieren möchte.

Park Slope Food Coop in New York

Warum setzen sich diese Alternativen nicht durch?

Nun stellt sich die Frage, wenn es bereits erfolgreiche Alternativen gibt, die sich sogar in streng kapitalistischen Umgebungen behaupten können und aus demokratietheoretischer Sicht den autoritär strukturierten Unternehmen klar zu bevorzugen sind, warum setzen diese sich aktuell nicht weitläufig durch?

Wird davon ausgegangen, dass die Gesellschaftsschichten Kapitalist und Arbeiter in ihren Grundzügen weiter existieren, sind demokratisch geführte Betriebe nichts weiter als ein direkter Angriff auf die Privilegien der herrschenden Klasse. In einem globalen Konzern verdient das Führungspersonal nicht das achtfache der Arbeiter, sondern eher das achtzigfache. An oberster Stelle stehen die Unternehmensbesitzer. Sie verdienen keinen Lohn, sondern lassen ihr Kapital von den Arbeitern vermehren. Mit anderen Worten, die Menschen in den mächtigsten Positionen profitieren von den aktuellen Strukturen.

Wir sehen uns deswegen verschiedenen Erzählung ausgesetzt, die diese Strukturen anpreisen und als notwendig darstellen. Sei es die Behauptung, der Arbeitgeber profitiert zurecht von der Arbeit seiner Angestellten, da er das Risiko trägt – worauf zu entgegnen ist, dass auch Arbeitnehmer ein Risiko tragen (dass sie theoretisch jederzeit ihre wirtschaftliche Existenz verlieren könnten) – oder dass nur die Aussicht auf Profitmaximierung die nötige Motivation für wirtschaftliche Handlungen sicherstellt – was von dem realitätsfernen Menschenbild des Homo oeconomicus ausgeht.

Auch das Einfordern von Dankbarkeit gegenüber Arbeitgebern für das Schaffen von Arbeitsplätzen ist nichts weiter als eine Tatsachenverdrehung, da dies nur notwendig ist, weil unsere Gemeingüter in den Händen einiger weniger Menschen liegen und nicht uns allen gehören – und somit demokratischer Einflussnahme entzogen sind.

Es wird offensichtlich, die Demokratisierung der Wirtschaft und der Betriebe würde nur gegen erheblichen Widerstand gelingen. Beispiele wie Mondragón oder Park Slope Food Coop zeigen aber, dass es möglich ist und am Ende die Allgemeinheit davon profitiert. Wir sind also mit der Demokratisierung unserer Gesellschaft noch nicht am Ende – eher auf halbem Wege. Um Wohlstand für Alle zu garantieren und den Menschen die Möglichkeit einzuräumen, zusammen eine nachhaltige und umweltgerechte Wirtschaft aufzubauen, ist jedoch der ganze Weg notwendig.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Kommentare

2 Antworten zu „Politik vs. Wirtschaft – Unsere Gesellschaft ist nur zur Hälfte demokratisiert“

  1. […] gelingt eine Einordnung besser: Die FDP steht für einen freien Markt. Ein freier Markt basiert auf autoritär strukturierten Unternehmen und Zugangsbegrenzung zu Gemeingütern, und führt in letzter Konsequenz zur Geburtenlotterie, in […]

  2. […] variiert dabei die Anzahl der Produktionsmittelbesitzer, der Lebensstandard der Arbeiter und die Möglichkeit demokratischer Teilhabe für die Bürger eines Landes. Nach dem 2. Weltkrieg wurden im Westen die kapitalistischen […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert