Der systembedingte Aufstieg rechtsextremer Kräfte

Wir sind in westlichen Industrienationen mit einer aufstrebenden Rechten konfrontiert. Gleichzeitig nimmt seit den 70er-Jahren die soziale Ungleichheit stark zu. Der Anteil der reichsten 1 % am Gesamteigentum ist derzeit fünfmal höher als der der ärmsten 50 %. Bei dieser Entwicklung ist ein Aufstieg rechtsextremer Kräfte nicht überraschend – sondern eine folgerichtige Konsequenz unseres Systems.


Die wachsende Wirtschaftliche Ungleichheit

Die Wirtschaftswissenschaftler Goldin und Margo schreiben in ihrem Aufsatz über die Great Compression:

Als die Vereinigten Staaten aus der Phase des Kriegs und der Depression heraustraten, wiesen sie nicht nur eine wesentlich geringere Arbeitslosigkeit auf als zuvor, sie hatten zudem auch eine Einkommensstruktur, die egalitärer war als jede spätere.

Die Great Compression ist ein Zeitraum von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem sich Unterschiede in Einkommen und Vermögen in vielen Industrienationen verringerten.

Zwischen 1870 und 1910 wies der Kapitalbestand in Deutschland, Großbritannien und Frankreich einen Wert von rund sieben Jahren Nettonationaleinkommen auf. Durch die politischen und wirtschaftlichen Katastrophen, die sich zwischen den 1920er und 1940er Jahren ereigneten, kam es zu Zerstörungen von Teilen des Kapitalbestands, so dass dieser bis in die 1950er Jahre hinein nur noch einen
Wert von rund zwei bis drei Jahren Nettonationaleinkommen aufwies.

Seit den 1980ern setzte jedoch wieder, bedingt durch neoliberale Politik, eine wachsende Ungleichheit der Einkommen ein, verbunden mit einer starken Vermögenskonzentrationen. Aktuell weißt das Kapital-Einkommen-Verhältnis Werte zwischen 400 Prozent und 600 Prozent auf. Die aktuelle Ungleichheit nähert sich also Vorkriegszeiten an.


Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty bezweifelt, dass eine Marktwirtschaft Einkommen und Vermögen nach dem Leistungsprinzip verteilt. Viel mehr sorgt sie langfristig dafür, dass es den Gesellschaftsmitgliedern nicht mehr möglich ist, durch eigene Anstrengung im Verlaufe ihres Lebens ein Einkommen zu erwirtschaften, das annähernd in der Höhe der Einkommen ist, die ererbte Vermögen abwerfen. Es droht eine Gesellschaft, in der die Höhe des Erbes entscheidet, wer in einer Gesellschaft arm und reich ist. Nicht Anstrengung und Leistungsfähigkeit zählen, sondern Glück bei der Geburt.

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty

Piketty hält fest:

„Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen.“


Wir leben also in einem System, welches inhärent Ungleichheit fördert. Was bedeutet das für uns?

Die Konsequenzen einer ungleichen Gesellschaft

im September 2023 urteilten im ZDF-Politbarometer zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland 63% der Befragten, dass es ungerecht oder sehr ungerecht zugeht. Im Juni beurteilten selbst 66% der Anhänger der FDP, die neoliberale Vorzeigepartei, den Konflikt zwischen Arm und Reich als stark oder sehr stark.

Passend dazu, stellt eine Studie der Hans Böckler Stiftung fest:

Armut gefährdet die Demokratie. Die soziale Ungleichheit hat sich in den vergangenen Jahren zum Teil weiter verschärft. Darunter leidet auch das Vertrauen in das politische System.

Es ist zu beobachten, dass sich ein immer größerer Teil der Menschen unserer Gesellschaft abgehängt fühlt und das Vertrauen in unser politisches System verliert. Diesen Sachverhalt machen sich rechte Demagogen und Populisten zu Nutzen, um Menschen für ihre politische Agenda zu gewinnen – welche die existierenden Ungleichheiten verstärkt. Ein Teufelskreis.

Soziale Ungleichheit in einem Bild von Johnny Miller

Die Studie Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland, für die 3.000 Beschäftigte in Ostdeutschland befragt wurden, stellt fest: Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen rechtsextremen Einstellungen und dem Gefühl von Ohnmacht am Arbeitsplatz. Das Jacobin-Magazin und die taz leiten daraus ab: „Ohnmacht ist die Wurzel des Ressentiments“ oder auch „Mehr Mitbestimmung, weniger Nazi“

Tatsächlich ist zu beobachten, dass nach Jahrzehnten neoliberaler Politik, inklusive Staatshaushaltskürzungen, Privatisierungen und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten, die radikale Rechte in den westlichen Industrienationen politisch erstarkt. Seien es rechtskonservative Parteien in Griechenland und Spanien, Geert Wilders in den Niederlanden, die Fratelli d‘Italia mit Giorgia Meloni oder Donald Trump in den USA. Auch in Deutschland sehen wir uns mit einer AfD auf Platz zwei konfrontiert.

Die „Postfaschistin“ und aktuelle italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni

Wie ist die aktuelle Situation einzuschätzen?

Der Unmut der Menschen schlägt sich immer mehr Bahn. Die Real-Lohnverluste sorgen aktuell für die größte Streikwelle in Deutschland seit Jahrzehnten: „Wir sehen heute sicherlich mehr Streiks als vor zehn oder 20 Jahren“, sagt Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Streiks ziehen sich durch den gesamten Verkehrssektor mit Bus, Bahn und Flugverkehr. Im Agrarsektor sehen sich die Bauern einer ähnlichen Lage ausgesetzt. Die Monopolisierungsdynamiken im Kapitalismus sorgen dafür, dass die großen Konzerne immer mehr an Marktmacht gewinnen, in dem sie kleine Betriebe in die Pleite drängen. Die Bauern werden vom System gefressen.

Doch während die Arbeitskämpfe der Gewerkschaften in geregelten Bahnen ablaufen, sind bei den Bauernproteste einerseits bedrohliche Ausuferungen und andererseits Unterwanderungen von rechten Kräften zu erkennen. Die zu Teilen gesichert rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland versucht den Unmut der Bauern für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren. Die Bauernproteste dienen somit als Anschauungsbeispiel dafür, wie Akteure aus dem rechten- bis rechtsextremen Spektrum erfolgreich politischen Profit aus Menschen schlagen, die vom System vergessen und zurückgelassen wurden. Der rasante Aufstieg der AfD ist somit alles andere als überraschend.


Wir sind an einem Punkt, an dem man zugeben muss, dass es in einer Gesellschaft, die sozial und wirtschaftlich immer weiter auseinanderrückt, keine Aussichten auf ein dauerhaft friedliches Zusammenleben gibt. Marx skizziert in seinem Krisenszenario für den Kapitalismus: Die fallende Profitrate führe zu einem immer gnadenloseren Konkurrenzkampf, zu Insolvenzen von Betrieben, einer zunehmenden Konzentration des Kapitals in den Händen weniger Unternehmer. Doch mit der Bildung von Monopolen wachse „die Masse des Elends, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden Arbeiterklasse“.

Karl Ballod identifizierte in seinem Buch „Der Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat“ den ersten Weltkrieg als solch ein kapitalistisches Krisenszenario:

„Bürgerliche Nationalökonomen wiesen mit besonderem Stolz darauf hin, daß die Wirtschaftskrisen nicht, wie Marx es erwartet hätte, immer schlimmer geworden wären, sondern daß sie im Gegenteil sich immer mehr abgeschwächt hätten. Ja doch – bis die aufgespeicherten, zur Krisis hindrängenden Kräfte sich in der furchtbarsten Krisis der Weltgeschichte, in dem Weltkrieg, Luft machten, der doch gerade von den bürgerlichen Nationalökonomen als ein Wirtschaftskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes hingestellt wird, und der weit, weit mehr Werte vernichtet hat als alle vorangehenden Wirtschaftskrisen.“

Die Wirtschaftskrise der Weimarer Republik 1931

Folgt man dieser Betrachtung, ist davon auszugehen, dass dem kapitalistischen Privateigentum Konkurrenz entspringt, welche zu einer krisenhafter Entwicklung führt, die in Imperialismus und Krieg mündet. Die Katastrophen zwischen den 1920er und 1940er Jahren sorgten durch die Zerstörungen von Teilen des Kapitalbestands für eine Art „Reset“ dieses Prozesses. Nun sind wir wieder im vollen Tempo auf Krisenkurs.


Unter diesen Betrachtungspunkten ist das Erstarken rechtsextremer Kräfte als Symptom des kapitalistischen Krisenprozesses zu sehen, welches nicht isoliert bekämpft werden kann. Die einzig langfristig wirksame Lösung ist die Herstellung gesellschaftlicher Gleichwertig- und Gerechtigkeit. Gelingt dies nicht, steuern wir unaufhaltsam auf den nächsten großen Knall zu.


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